Lina Köpke: Fragen über Fragen

Vorbemerkung von Wolfgang Rall (Religionslehrer): Lina Köpke ist Schülerin am Einstein-Gymnasium. Sie schrieb diesen Text im Juni 2018 unmittelbar unter dem Eindruck des Besuchs der Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Der Besuch fand im Rahmen einer fünftägigen Gedenkstättenfahrt statt. Seit 2015 werden vor dem Rathaus in Angermünde jeweils am Morgen des 27. Januar in einem feierlichen Akt die Fahnen auf Halbmast gesetzt. Der Grund für diese Trauerbeflaggung ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Die Halbmastbeflaggung wird in jedem Jahr durch Schülerinnen und Schüler mit Texten und Musik des mahnenden Gedenkens gestaltet. In diesem Jahr wurden erstmals auch zwei Texte vorgelesen, die Schülerinnen während der Fahrt direkt in Oswiecim/Auschwitz schrieben. Der folgende Text gehörte dazu. Er wurde von der Autorin selbst vor dem Rathaus vorgelesen. —————————————————————————————————————————————-

Lina Köpke: Fragen über Fragen

Noch vor zwei Jahren waren die drei Wörter ,,Arbeit macht frei“ nichtssagend für mich.

Heute stehe ich vor dem geschwungenen Schriftzug und weiß nicht, was ich denken soll. Ich weiß auch nicht, was ich fühle.

Vermutlich Trauer, für all das Leid, was den Menschen hier angetan wurde. Ja, ich glaube, Trauer beschreibt meine Gefühlslage sehr gut. Allerdings ist es eine andere Art von Trauer, eine, die ich so noch nicht erfahren habe.

Dann im Krematorium bleibt mir die Luft weg.

Ich stehe in der Gaskammer, kann durch die nächste Tür schon die Öfen sehen. Genau hier, wo ich stehe, sind Menschen wie du und ich gestorben. Kinder und Greise, Väter und Mütter, Onkel und Tanten, Brüder und Schwestern, Freunde, Nachbarn und Bekannte.

Sie starben hier, nackt und angsterfüllt, genau da, wo meine Schuhe jetzt den Boden berühren und auch da, wo es deine tun.

Sie starben hier!

Jetzt stehe ich einen Meter vor einem Ofen, einer von vielen, in denen täglich hunderte gequälte, tote Körper von einst vielleicht glücklichen Menschen brannten.

Zwischen den Baracken laufe ich hin und her, laufe auf dem Boden, auf dem sie auch liefen. Wenn der Boden nur reden könnte, von wie vielen Tränen würde er erzählen, von wie vielen Tropfen Blut und Schweiß, die auf ihn nieder tropften?

Und mit jedem Schritt frage ich mich, wer wohl hier gestorben ist, was seine Wünsche und Träume waren, ob er noch Hoffnung hatte, ob er noch Familie hatte, wenn ja, wo sie war und falls nein, was ihr zugestoßen ist?

Mit dem nächsten Schritt kommen die nächsten Fragen.

Wer ist hier geschlagen und gequält worden, wer gab hier auf und wer brach hier von Erschöpfung zusammen? Wer hat da sein Kind, seinen Vater, Bruder, Freund oder Nachbarn sterben sehen? Und wessen Tränen trafen hier auf den staubigen Boden? Oder weinte schon keiner mehr?

Und ich merke, wie meine Trauer stärker wird, aber ich trauere nicht nur um die Menschen, die hier leiden und sterben mussten. Ich trauere auch um die Menschen, die ihnen das antaten, denn wie kaputt muss ein solcher „Mensch“ sein, der seinesgleichen schamlos solch ein Leid zufügt?

Wie muss sich ein solcher Mensch fühlen?

Kann er überhaupt noch fühlen?

Und wenn nicht, wie fühlt es sich an so ganz ohne Gefühle?