Eine Fahrt nach Auschwitz

Vorbemerkung: 1945 befreite die Rote Armee am 27. Januar das Konzentationslager Auschwitz I und II.  Dieser Tag ist seit 1996 in Deutschland der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Die Vereinten Nationen erklärten 2005 den 27. Januar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. In Würdigung dieses Tages veröffentlichen wir den unten stehenden Artikel. (W. Rall, Betreuer der Schülerzeitung)

 

Von Bastian Schulz (Student an der Uni Potsdam, Abitur am Einstein-Gymnasium 2008)
Gastredakteur bei InVitrO – Die Schülerzeitung im Schaukasten und im Internet 
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„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei,
ist die allererste an Erziehung.“

Theodor W. Adorno (1903-1969)

Allein das Wort „Auschwitz“ steckt so voller Symbolkraft und Bedeutung, dass man sofort aufschreckt, wenn man es hört oder liest.  Ein gewisses Unbehagen verstärkt sich dann noch, wenn man weiß, dass man diesen Ort besuchen wird. Das „Auschwitz“ im Kopf wird zu einem realen Auschwitz, zu einem Auschwitz, das sich in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft (wenn es das überhaupt gibt) und in das Bewusstsein eines jeden Einzelnen einnistet.
Die Fahrt ins Konzentrationslager Auschwitz und Auschwitz-Birkenau war im Jahre 2005 der von Schülerinnen und Schülern selbst gewählte Abschluss mit der Thematik „Holocaust“ im Religionsunterricht von Herrn Rall. Vorab hat die Schülergruppe versucht, mit Texten, Bildern, Filmen, Dokumentationen und Diskussionen einen Einblick in die Thematik zu erhalten. Sie ist so vielschichtig, dass wohl jeder nur einen kleinen Teil davon tatsächlich intellektuell wie auch emotional verarbeiten kann.
„ARBEIT MACHT FREI“ war der Spruch, der mich als erstes begrüßte, als wir das Konzentrationslager Auschwitz betraten. Ich war in einer Gruppe von Freunden und Mitschülern, die normalerweise fröhlich, laut und albern daher kamen. Doch „normalerweise“ gab es in diesem Moment nicht. Alle waren ruhig und sind mit Anspannung und Beklemmung durch das Tor gegangen. Das Gezeigte setzte die Gruppe in eine Art Schockzustand, der uns alle verstummen ließ. Keiner wollte reden, schon gar nicht über die tiefgreifenden Eindrücke, die einem regelrecht aufgezwungen wurden.
In einem Gebäude beispielsweise, isoliert hinter Glas, konnte man einen unbeschreiblich hohen Berg von Schuhen und Haaren sehen. Man konnte Bürsten sehen, Goldzähne, Gebisse und Brillen. Das alles waren Gegenstände von Menschen, die in Auschwitz ihr grausames Ende fanden – erschossen, verhungert oder vergast. Zu diesem imposant-erschreckenden Eindruck gesellte sich dieser säuerlich-beißende Geruch, der den ganzen Raum ausfüllte, einem die Kehle noch ein wenig mehr zuschnürte und das unangenehme Gefühl im Bauch verstärkte.
Ich war froh, als ich aus dem Gebäude herauskam, frische Luft einatmen und meinen Blick in den blauen Himmel ragen lassen konnte. Aus nachträglichen Gesprächen weiß ich, dass in diesem Moment nicht nur mir ernsthaft zum Weinen zumute war. Doch unser Rundgang hatte beinahe klimaktischen Charakter, sodass dieses beklemmende Gefühl den ganzen Tag lang nicht abebben wollte, denn der nächste Ort war das Krematorium mit intakten Öfen. Auf ihnen war sogar der Name der produzierenden Firma „Thyssen AG“ nachzulesen. Ja, das Unternehmen, welches heute immer noch existiert, welches eines der DAX 30 Unternehmen ist, das für eine Vielzahl deutscher Autos Teile produziert und das heute auf seiner Internetpräsenz die Verbandelung mit dem NS-Regime gerne mal kurz und knapp in zwei Sätzen abhandelt.
Eine Szene hat sich mir bis heute in mein Gedächtnis eingebrannt: Eine Besucherin des KZs lässt sich mit dem Verbrennungsofen fotografieren. Sie stellte sich neben den Ofen, lächelte in die Kamera und zog weiter, als das Foto endlich fertig war. Irgendwie hat das ganze seinen bitteren Beigeschmack bis heute beibehalten. Damals einigten wir uns darauf, nicht zu fotografieren bzw. wenn fotografiert wurde, dann wollten wir alle nicht lächeln. Es erschien uns unangebracht, schließlich sollten die Fotos etwas anderes ausdrücken als unseren Sommerurlaub. Ob diese Entscheidung wichtig und richtig war, ist nicht die Frage. Vielmehr steht sie symbolisch für eine Befangenheit und Hilflosigkeit mit der ganzen Situation.
Eine andere eindrucksvolle Szene, an die ich mich noch genau erinnern kann, war das bekannte Frontalbild vom Eingangstor Auschwitz-Birkenau. Ich kannte es von einer Vielzahl von Bildern oder aus Dokumentationen: Ein Backsteingebäude, eine gewölbte Pforte und Schienen, auf denen Züge Menschen direkt in den Tod fuhren. Als ich im Torbogen stand und sah, dass das Gebäude tatsächlich dreidimensional ist, dass Türen rechts und links den Weg in ehemalige Aufseherkabinen eröffneten, wurden die vielen bekannten Bilder im Kopf noch bedeutungsvoller und das Unvorstellbare und Unwirkliche wurde für einen Moment zum Gegenwärtigen. Obwohl nicht mehr so viel von Birkenau erhalten ist, kam damals irgendwie eine beklemmende Angst in mir hoch: Was wäre, wenn ich damals gelebt hätte und zufällig von irgendwelchen Menschen zum Sündenbock und als Legitimationsgrundlage für die Durchführung unmenschlicher Machenschaften bestimmt worden wäre?
Und heute frage ich mich: Was, wenn irgend jemand wieder versuchen würde, solche schrecklichen Ideen umzusetzen? Wie sieht es heute mit Toleranz und Akzeptanz gegenüber anderen aus? Und wer bestimmt eigentlich, wer „anders“ ist? Haben wir was gelernt? Nehmen wir die Verantwortung, nehme ICH die Verantwortung ernst, die aus der Geschichte erwächst?
Immer wieder und viel zu häufig lese, sehe oder höre ich Nachrichten, die einigen meiner Fragen Antworten gegenüberstellen, die mich sehr kritisch und argwöhnisch auf mich und die deutsche Gesellschaft schauen lassen.
Vor nicht allzu langer Zeit beispielsweise wurde die Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) enttarnt. Was wurde festgestellt: Sie hatte (oder hat?) ein breites Unterstützungsnetzwerk. Ein Unterstützungsnetzwerk für Menschen, die antidemokratisch sind und Menschen ermorden. Für eine Gruppe, die offenkundig nationalsozialistisches Gedankengut auslebt. Damit verbundene Unklarheiten reichen bis in staatliche Institutionen wie dem Verfassungsschutz. Dabei ist doch gerade der Verfassungsschutz dazu da, unsere Demokratie wehrhaft zu machen.
Angesichts solcher Tatsachen wird deutlich, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit nicht Randprobleme darstellen, mit welchen sich irgendwer mal irgendwann so beiläufig auseinanderzusetzen hat.
Die Verantwortung, aktiv gegen Xenophobie vorzugehen und Erinnerungsstätten wie das Konzentrationslager Auschwitz zu erhalten, erwächst  für die deutsche Gesellschaft aus der Geschichte. Die Notwendigkeit des Handelns zeigen die aktuellen und immer wiederkehrenden Ereignisse. Aus diesem Grunde ist Adornos Forderung eine Mahnung, die auch noch heute, viele Jahrzehnte später, an Ernsthaftigkeit und Aktualität nichts verloren hat.

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